2021_KW03_kompliziert

kompliziert

„Es ist kompliziert“ – das ist ein nichts- und zugleich vielsagender Beziehungsstatus auf Facebook. Liebt sie die Tochter des Bruders ihrer Mutter? Liebt er seinen Zwilling, von dem er nach der Geburt getrennt wurde? Fehlt das Commitment der anderen Seite oder ist die betreffende Person sich selbst nicht sicher? „Es ist kompliziert“ ist Gute Zeiten Schlechte Zeiten als Statusangabe.

Mir persönlich war es stets zu privat, solche Informationen mit der ganzen Welt (oder auch nur mit „Freunden“ von „Freunden“) zu teilen. Und nun ist „kompliziert“ mein Wort der Woche, das Wort, mit dem ich diesen Blog eröffne.

Die vierte Kalenderwoche des Jahres 2021 liegt hinter uns und „kompliziert“ beschreibt nicht meinen Beziehungsstatus, dafür aber den Zustand meiner Innenwelt im Verhältnis zur Welt-Welt da draußen. Je mehr ich über mich und diese Welt lerne, desto komplizierter erscheint mir alles. (Alles!) Es ist kein Geheimnis, dass Menschen sich nach Einfachheit sehnen. Ich sehne mich danach. Doch lässt man sich einmal mitreißen vom Strudel komplizierter Zusammenhänge, gibt es keinen Weg zurück. Hier beginnt das Aushalten und das Lernen geht weiter – zumindest für diejenigen, die sich dem Sog ergeben.

Der Duden definiert „kompliziert“ als „schwierig; verwickelt; [aus vielen Einzelheiten bestehend und daher] schwer zu durchschauen und zu handhaben“ und verweist auf das französische compliqué oder das lateinische complicitum als Ursprünge. Das zu letzterem dazugehörige Verb complicare bedeutet „zusammenfalten, verwickeln, verwirren“.

Interessanterweise ist gleich der zweite Sucheintrag zu „kompliziert“ ein Klon der Wiktionary-Seite, die sich diesem Wort widmet (zumindest für mich und bei Ecosia). Der Betreiber sitzt in Dubai und im Impressum wird ein Postfach angegeben. Interessant, ein bisschen absurd, vielleicht auch kompliziert?

Wiktionary schreibt in der Anmerkung zu meinem Wort der Woche, es sei „ein impliziter Komparativ zwischen dem, was man gerne hätte und dem, was man hat“. Oha! Hast Du mich gerade beleidigt, liebes Wiktionary? Die Anmerkung differenziert hier zwischen objektiver und subjektiver Sichtweise: Rein objektiv betrachtet bezeichnet „kompliziert“ etwas von hoher Komplexität. Aus subjektiver Perspektive wandelt sich die Bedeutung jedoch dahingehend, dass etwas als kompliziert Wahrgenommenes auf eigene Unzulänglichkeiten verweist. Autsch. In diesem Sinne sei „kompliziert“ also meist negativ konnotiert. Na klar, wer wünscht sich schon einen komplizierten Beziehungsstatus? Wen gelüstet es nach einem moralischen Hin- und Hergerissensein zwischen den eigenen Werten und dem eigenen Handeln, zwischen dem, was gut, was besser, was richtig, was wichtig wäre? Über sämtliches Wissen und Können, größte Intelligenz oder allgegenwärtige Bereitschaft zu verfügen – ist das nicht unmöglich? Ist die objektive Wortbedeutung überhaupt relevant, wenn absolute Objektivität gar nicht existiert? Die bloße Idee von Objektivität verpufft spätestens dann, wenn man beginnt, sich zu öffnen und sind die Türen erst einmal aufgesperrt, stellt man sehr schnell fest, dass die Dinge eben kompliziert sind.

Dennoch lese ich derzeit vielerorts über Leichtigkeit, einen Zustand, der in meiner Filterblase häufig als Weg hinein ins gute Leben proklamiert wird. Eine verlockende Aussicht. Das alles hier muss kein Kampf sein? Es ist gar nicht notwendig, dass ich mich selbst vergesse, um über die Runden zu kommen? Ich darf einfach sein? Wie ich bin?

So sehr ich den Ansatz bewundere und so sehr ich mir wünschte, dass möglichst viele Menschen diese Leichtigkeit in sich tragen, so kompliziert ist dieses Konzept für mich. Das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache liefert hier gleich ein passendes Verwendungsbeispiel, das aus einer Zitatensammlung des Autors und Journalisten Ernst Günter Tange stammt:

„Viele würden gern ein einfacheres Leben führen, wenn der Weg dahin nicht so kompliziert wäre.“

Zitatenschatz für Lebenskünstler, Frankfurt a. M.: Eichborn 2000, S. 10

Ein schönes Zitat, dessen Aussage sicherlich hier und da ein zustimmendes Nicken auslöst. Für diejenigen, die sogleich ein entsprechendes Wandtattoo mit Quellenangabe in Auftrag geben wollen (Spaß!), habe ich eine kurze Recherche angestellt – ich wäre keine gute Geisteswissenschaftlerin, wenn ich nicht wenigstens drei Minuten lang versuchte, den/die Urheber:in ausfindig zu machen. Der Satz stammt von einem gewissen Justus Jonas. Leider muss ich zugeben, dass der bekannte Suchmaschinenbetreiber mit dem großen G hier bessere Ergebnisse lieferte als das Tool meiner Wahl. Dieses ließ mich nämlich zunächst an den Justus Jonas denken, der mir als Gründer der drei Fragezeichen bestens bekannt ist, wohingegen der tatsächliche Urheber ein Jurist und Theologe im 16. Jahrhundert war, dessen echter Name Jobst Koch lautete … Was er mit diesem Sinnspruch gemeint hat (insbesondere da auf vergangene Zeiten gemünzt), werde ich nun leider nicht durch das Hören unterhaltsamer Kriminalhörspiele herausfinden (bei aktuell 208 Folgen eine nicht unerhebliche Aufgabe), aber ich habe eine Ahnung. Wenn wir uns ein einfacheres Leben, ein Leben, Arbeiten, Sein in Leichtigkeit, wünschen, dann weil wir beschwert sind von der Welt. Der Welt um uns und der Welt in uns.

Das idealisierte einfachere Leben misst sich immer an einem von Mangel geprägten Ist-Zustand. Aus dieser Perspektive (Mangel) ist der Weg dorthin (Leichtigkeit) unweigerlich kompliziert, sonst gäbe es gar keinen Anlass für Sehnsucht – man würde sofort die Zelte abbrechen und schnurstracks ins Glück marschieren. Vielleicht möchte uns Justus Jonas also mitteilen, dass es dieses einfachere Leben gar nicht gibt oder dass so ein allgemeiner Wunsch leider reichlich unkonkret ist. (Schonmal was von SMART-Zielen gehört?) Doch bevor meine Gedanken sich noch weiter verheddern (fun fact: die Wurzel des lateinischen plicare ist altgriechisch πλέκω (pléko) „flechten“ und „verflochten“ hat das Synonym „komplex“, welches etymologisch mit „kompliziert“ verwandt ist – mind=blown-Emoji!), möchte ich noch einmal auf die wenig schmeichelnde Wiktionary-Definition zurückkommen, der zufolge ich etwas als kompliziert empfinde, weil mir „das Wissen, das Können, die Intelligenz oder die Bereitschaft […], es zu verstehen oder zu beherrschen“ fehlt. OK, ich habe es verstanden, Kompliziertheit, it’s not you, it’s me. Aber ist das nun per se negativ? Ich denke nicht. In vielen Dingen gibt es keine einfachen Antworten und das auszuhalten, ohne in Apathie abzudriften, ist meines Erachtens ein wertvoller Charakterzug. Natürlich ist es umso bewundernswerter, wenn Menschen den komplizierten Weg wählen. Denn der beginnt bei einem selbst.

Wie Propaganda singt, „it’s complicated, but so is a star“. (Songtext hier.)

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