Die Zeit, die ich aufgewendet habe, um das Bild für diesen Beitrag aus dem Archiv zu fischen, bekomme ich nicht zurück. So viel ist sicher. Wie vieles andere, das ein gewisses Alter erreicht und an Relevanz für das Hier und Jetzt verloren hat, lag es im Keller der Erinnerungen (hier romantisch für „in der Dropbox“), wo es sich in einem Unterordner mit weiteren vierzig nach Datum sortierten Unterordnern fand. Vor circa zehneinhalb Jahren am anderen Ende der Welt abgelichtet, ist es mir ein Mysterium, wie die Erinnerung an diesen Weckruf-trommelnden Mickey Tambour die Zeit so lebhaft überdauern konnte.

Die vom Digitalen Wörterbuch der Deutschen Sprache generierte Verlaufskurve für die Verwendung des Wortes „Zeit“ in Wissenschaft, Zeitung, Gebrauchsliteratur und Belletristik zeigt, dass dieses immer noch häufig verwendete Wort seit 1600 (Beginn der Datenerhebung) einen andauernden Abwärtstrend erlebt. Das Jahr 1600 stellte auch sogleich den Höhepunkt der Wortnutzungsfrequenz innerhalb der Belletristik dar. Vielleicht, weil die verhältnismäßig wenigen Schreibenden damals noch ausreichend Zeit hatten, über Zeit nachzudenken und sich die Zeit nahmen, ausgiebig darüber zu schreiben? Die Statistik könnte natürlich auch etwas ganz anderes aussagen, aber dies werde ich wohl nie erfahren. (Außer, jemand möchte mich erleuchten – please feel free to do so!)

Im vergangenen Jahr – und hiermit meine ich nicht das Kalenderjahr, sondern die letzten zwölf Monate –, also in Zeiten von … ihr wisst schon, scheint das Wort, vor allem aber das dazugehörige Konzept, jedoch wieder richtig in Mode gekommen zu sein. Zum Teil, weil überall von „dieser besonderen / schweren / herausfordernden [you name it] Zeit“ die Rede ist, aber auch weil es im Meme-versum des Internets so viel Lustiges zu sehen und zu lesen gibt. (An dieser Stelle würde ich gerne irgendwen zitieren, aber dieses Internet ist zu groß und ich habe meine Quellen nicht beisammen.) Kurz gesagt: Die Dinge, mit denen wir versuchen, die Zeit festzuhalten, ihren Verlauf zu überblicken und die uns helfen, wahrzunehmen, wann wir sind, haben ihre Wirksamkeit verloren. Dies könnte wirklich der 332. März 2020 sein.

Das heutige Wort „Zeit“ geht zurück auf das mittel- und althochdeutsche zīt, was etwas „Abgeteiltes“ oder einen „Abschnitt“ bezeichnet. Hier zeigt sich sprachlich, dass der Mensch die Zeit seit jeher einzuhegen versucht, indem er auf der Basis von Beobachtungen Zyklen beschreibt und voneinander abgrenzt, um die Zeit nutzbar zu machen. Nutzbar für den Ackerbau zum Beispiel, oder den Friseurinnenbesuch. Menschen mit sehr viel Zeit schauten in den Sternenhimmel und erfanden den Kalender, ein gesellschaftliches Konstrukt, das wie kaum ein anderes „Normen, Werte, Kenntnisse und Annahmen über die Stellung des Menschen in der Natur, zu seinesgleichen und gegenüber der Zeitlosigkeit (des Schöpfers, der Götter oder des Nichts)“ enthielt und zudem ein den Eliten vorbehaltenes Machtinstrument darstellte (Coulmas, Florian: Die Kultur Japans, München: C. H. Beck 2005 [2003], S. 156). Heute ist es ein Leichtes, den richtigen Zeitpunkt für die Radieschenaussaat zu ergooglen oder den nächsten Termin zum Haareschneiden der passenden Mondphase entsprechend zu wählen. Dafür brauchen wir keine Sterndeuter mehr. Was geblieben ist, ist ein Bedürfnis nach Orientierung, ein bisschen Halt in dieser Welt, die uns kompliziert erscheinen mag. Ein voller Kalender ist gut. Er zeigt (vermeintlich), dass wir unser Leben im Griff haben, verschiedene Dinge unter einen Hut bekommen, in einem sozialen Gefüge agieren. Arbeit, Partys, VHS-Kurse, Familienfeiern, Konzerte, Lesungen, Ausflüge an den See und Telefonate mit Oma. Jede Minute wird verplant und Müßiggang verpönt. Als würde die eigene Existenz an dem hängen, was wir erleben und was wir leisten, an denjenigen, die uns gegenüberstehen und uns zeigen, dass wir sind. Bekanntermaßen wird diese Rückversicherung, die außerhalb von uns stattfindet, aktuell (in dieser „besonderen Zeit“) fast gänzlich unterbunden und es könnte der Eindruck entstehen, die Zeit gehöre nun endlich uns.

Doch etwa ein Jahr nach Beginn dieser „herausfordernden Zeit“ sind die Bananenbrot-Insta-Posts rar geworden und ich habe schon lange niemanden mehr gesprochen, der sich endlich an Sauerteig herangewagt hat. Es scheint, als wäre dieses Mehr an Zeit, das wir gegen ein Weniger an Leben eintauschen mussten, von vornherein eine Illusion gewesen. Und für diejenigen, die mehr auf dem Zettel haben als ein bisschen Arbeit im Homeoffice und zweimal die Woche staubsaugen, gab es ohnehin keinen Tausch von A gegen B, sondern eher ein Minus an Zeit und ein Minus an Leben on top. Aber auch ich als in vielerlei Hinsicht privilegierte Person habe nicht das Gefühl, mehr Zeit zu haben, obwohl mein Kalender einer weißen Leinwand gleicht. Ich lese nicht mehr Bücher, lerne nicht besser für meine Sprachkurse (jaja, humblebrag) und habe es nicht einmal zustande gebracht, meinen ersten Kombucha-Pilz, der wirklich nicht besonders viel Pflege gebraucht hätte, am Leben zu erhalten. In meiner Wohnung kommt es zu Wollmausverwehungen und meine Webseite wartet seit zehn Monaten auf Vervollständigung. Ein Tag hat 24 Stunden, acht davon verwende ich auf Schlaf, zwei für die Zubereitung und Aufnahme von Essen, der Rest teilt sich in Arbeit und … I don’t know … YouTube? Wenn carpe diem die Mutter aller daily affirmations ist, dann stehe ich auf kahlem Feld. Anstatt den Tag zu „pflücken“ – so die laut Wikipedia korrekte Übersetzung der „gartenbauliche[n] Metapher“, – spüre ich, wie der Zahn der Zeit an mir nagt. Nicht weil ich wie der Kölner Dom unter dem Einfluss von Taubenkot zerbrösele, sondern weil ich mit jedem Tag, der ist wie gestern, mehr und mehr den Bezug zum Sein verliere. Wow, das klingt ein bisschen zu dramatisch. Gemeint ist, dass Zeit alleine zu füllen nicht erfüllend ist. Nicht einmal für mich, einen echten homebody, der sonst keine Langeweile kennt. Aber Langeweile ist per definitionem das, was gerade herrscht, ein „als unangenehm, lästig empfundenes Gefühl des Nicht-ausgefüllt-Seins, der Eintönigkeit, Ödheit, das aus Mangel an Abwechslung, Anregung, Unterhaltung, an interessanter, reizvoller Beschäftigung entsteht“.

Und in dieser Langeweile rasen die Tage, Wochen und Monate an uns vorbei, lassen uns einsam am Straßenrand des Lebens, in das wir zurückwollen, sitzen. Wie lässt sich das meiste aus dieser Zeit machen, wenn man im Grunde nur wartet, wieder einsteigen zu können?

An alle, die das hier lesen: Ich vermisse euch!

Schreibt mir auf Instagram – ist eure Zeit gestaucht oder streckt sie sich?

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